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Abbau des Wohlfahrtsstaates durch neoliberalen Staatsautoritarismus

  • Autorenbild: Adolf L. Pohl
    Adolf L. Pohl
  • 4. Aug. 2022
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 25. Aug. 2022

Der Wohlfahrtsstaat besitzt ein optimales Lösungspotential für sozialpolitische Probleme. Er ist ein Sozialstaat, der allen Bürgern rechtlich gesicherte soziale Dienste und eine Infrastruktur zur Verfügung stellt, die den »sozialen Fortschritt« durch soziale Bürgerrechte fördert. Im Wohl­fahrtsstaat genießt die Bildungspolitik eine hohe Priorität, Familien- und Kinderrechte werden geschützt, die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Solidarität zwischen den Generationen gefördert. Soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen werden bekämpft; soziale Gerechtigkeit, ein hohes soziales Sicherheitsniveau und annähernde Vollbeschäftigung werden angestrebt (Bruno Kreisky 1971: „Staat der Wohlfahrt für alle.https://science.apa.at/power-search/3569526809144125066).


BUTTERWEGGE Christoph (2018): Krise und Zukunft des Sozialstaates. 6. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Vlg. für Sozialwissenschaften (VS), 460 S.

MELOEN Jos D (2000): Die Ursprünge des Staatsautoritarismus. Eine empirische Untersuchung der Auswirkungen von Kultur, Einstellungen und der Politik im weltweiten Vergleich. S. 215-236 in Rippl S, Seipel C & Kindervater A. (Hrsg.): Autoritarismus. Opladen: Leske & Budrich, VS.

SCHMID Josef (2010): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme. 3. aktualisierte u. erweiterte Auflage. Wiesbaden: Vlg. für Sozialwissenschaften, 548 S.



Neoliberale Utopie

1979/1980 markiert mit Thatcherismus (GB) und Reaganomics (USA) einen historischen Wende­punkt in der globalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Der Sozialstaat wird radikal abgebaut und durch Abschaffung der sozialen Sicherungen, Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte, eigenverantwortliche Selbstertüchtigung, Ökonomisierung aller Gesellschafts­bereiche und Wegfall von Stützpfeilern des Sozialwesens (Daseinsvorsorge) zugunsten eines mög­lichst effizienten und profitablen Marktes als Ordnungsprinzip „verschlankt“. Dennoch soll der soziale Frieden – trotz abnehmender gesellschaftlicher Kohärenz – erhalten bleiben, denn ein richtig funktionierender Markt braucht angeblich keinen sozialen Ausgleich.


Die neoliberalistische Utopie, daß der (nur durch eine Wettbewerbsordnung) regulierte freie Wett­bewerb im funktionierenden Markt durch Eigenverantwortung (Individualisierung) und Privati­sierung dafür sorgt, daß dieser Markt auch sozial ist, stellt den Profit von Konzernen über das Wohl der Menschen und bewirkt seither weltweit Arbeitslosigkeit, Armut, Prekarisierung und soziale Unsicherheit. Eine starke Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und Biographien nährt die Abstiegsangst vor sozialer Ausgrenzung und eine soziale Verunsicherung, die heute bis weit in die Mitte der Gesellschaft reicht. Dieser besorgniserregende Zustand wird als sozialwirt­schaftliche Degeneration bzw. geistige, kulturelle, politische und soziale Regression gedeutet.


Neoliberalistische Regime verfolgen die Absicht, all jene sozialen Errungenschaften abzubauen, welche die Möglichkeit der Ausbeutung und Kapitalanhäufung behindern oder eingrenzen, und damit gleichzeitig alle Formen des Sozialschutzes (Daseinsvorsorge) auf ein Minimum zu reduzie­ren. Dadurch wird ein immer größerer Teil der Mittelschicht, die längst unter einer – durch Finanz- und Wirtschaftskrisen verschärften – relativen Prekarisierung leidet, der ständigen Er­pressung durch Arbeitslosigkeit und (relative) Armut ausgesetzt.


Prekarisierung und soziale Unsicherheit nehmen weltweit zu. Gründe dafür sind die Auslagerung vormals sozial abgesicherter Arbeit in informelle Beschäftigungsverhältnisse (subcontracting), be­fristete Jobs und Teilzeitbeschäftigung, Flexibilisierung, Heimarbeit und Scheinselbständigkeit. Es gibt immer mehr „Working Poor“, d.h. Menschen, deren Erwerbstätigkeit nicht mehr zur Deckung ihres Lebensunterhalts ausreicht. Es gibt keine Gesellschaft, die nicht von Armut, De­regulierung, sozialen Spaltungsprozessen und Sozialstaatsabbau betroffen ist. Auch die politi­sche Unsicherheit, die durch finanzielle Instabilität (Inflation), Korruption, bewaffnete Konflikte (Kriege) und Kriminalität ausgelöst wird, hat in vielen Ländern stark zugenommen.


Die liberale Demokratie unterscheidet sich von der Autokratie u.a. dadurch, daß die Bevölkerung die Herrschenden kontrolliert und nicht umgekehrt. Autokratisch geführte Demokratien (AT, HU, PL u.v.a.) haben die Covid-19-Pandemie ab 2019 als Vorwand benutzt, um unter der Devise: „Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen – koste es, was es wolle“ die Krise zum Ausbau ihrer Macht zu nutzen und dabei zentrale liberale Grundrechte in einer noch nie dagewesenen Art und Weise abzuschaffen bzw. einzuschränken (A: COVID-19-Maßnahmengesetz; D: Coronavirus-Schutzverordnung). Demokratische Institutionen des Wohlfahrts­staates wurden durch Notstandsverordnungen geschwächt, demokratische Grundfreiheiten, Grundsätze und Menschenrechte untergraben, abweichende Meinungen unterdrückt, verfas­sungsrechtliche Mechanismen zur Kontrolle der Exekutivgewalt eingeschränkt, Verordnungen ohne Zustimmung des Parlaments erlassen und auch der Raum für die Zivilgesellschaft beschnitten. Im Sommer 2022 wird immer noch versucht, den Eindruck eines dauerhaften Krisenzu­standes aufrechtzuerhalten, in dem gesetzliche Normen jederzeit suspendiert werden können.


Neoliberale Dominanzperspektiven ohne Differenzierung nach Verschiedenheit von Erfahrungen, Ethnopluralismus, Kulturdifferenzen, Lebensläufen und Positionierungen etablieren neue Herrschaftsverhältnisse und autoritäre Machtordnungskonzepte bar jeder Solidarität. Die Auswirkungen solcher Spielregeln auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die dem Markt weitaus mehr Steuerungskompetenz zusprechen als staatlichen Institutionen, sind völlig unge­wiß. Wachsende Verzweiflung, ohnmächtige Wut und gesteigerte Frustration können zu archaischen, primitiven und übermäßig vereinfachten Denkformen führen. Durch Mißachtungs­erfahrungen und gesellschaftliche Ungerechtigkeit hervorgerufenes Leid kann gewaltsame oder selbstzerstörerische Formen annehmen und neue, verzweifelte Spielarten des Populismus, Rassismus und des Neofaschismus begünstigen.


Conclusio

Ein gesellschaftskritischer Diskurs über soziale Fragen im 21. Jahrhundert ist über­fällig. Nur eine engagierte Demokratiepolitik und vermehrte sozialpolitische Anstrengungen könnten der zunehmenden Armut und Perspektivlosigkeit gegensteuern und mehr Chancengerechtigkeit gewährleisten!


 

Stichworte

Politischer Raum: Positionierung zum Ausbau oder Abbau des Sozialstaats, der Öffnung oder Restriktion von Zuwanderung sowie der spezifische Umgang mit den Herausforderungen, die aus dem Klimawandel erwachsen.


Regression ist das angsterfüllte Zurückweichen angesichts gesellschaftlicher Kräfte und Dynamiken, die als feind­lich und übermächtig angesehen werden. Die EU leidet an einer Schieflage zwischen übertriebenen ökonomischen Prioritäten und vollkommen vernachlässigten sozialen und ökologischen Anliegen!


Soziale Regression ist die Zerstörung emanzipatorischer Errungenschaften, die sich in besonderen Formen und Dimensionen materialisieren (gesellschaftliche Beziehungen, Imaginationen, Institutionen, Orte, Wortfügungen).


Sozioökonomische Konfliktlinien verlaufen zwischen den Positionen (1) mehr sozialstaatliche Leistungen und Sicherheit, auch wenn das mehr Steuern und Abgaben bedeutet und (2) weniger Abgaben und Steuern, auch wenn das weniger sozialstaatliche Leistungen bedeutet.


Systematische Zerstörung der grundlegenden Institutionen des Sozialstaates: vom öffentlichen Bildungssystem und Gesundheitswesen, dem Pensions- und Rentensystem bis hin zu den Sozialleistungen wird eine Reihe von Stützpfeilern der Sozialstaaten Europas vom Neoliberalismus laufend angegriffen.


ALLMENDINGER Jutta (2020, Hrsg.): Neue Verhältnisse. Was Corona mit der Gesellschaft macht. WZB-Mitteilungen Heft 168, Juni 2020. Paderborn: Bonifacius Vlg., 108 S.

HAGENDORFF Thilo (2016): Wirksamkeitssteigerungen gesellschaftskritischer Diskurse. Soziale Probleme 27 (1): 1-16.

KRAEMER Klaus (2008): Integration und Desintegration. Wie aktuell sind diese soziologischen Schlüssel­begriffe noch für eine moderne Gesellschaftsanalyse? Swiss Journal of Sociology 34 (1): 37–53.

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