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„Heilige“ Machtstrukturen?

  • Autorenbild: Adolf L. Pohl
    Adolf L. Pohl
  • 3. Aug. 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 4. Aug. 2022

Macht ist eine von Menschen gemachte soziale Ordnung: sie ist grundsätzlich zweischneidig: aktiv als Können und passiv als Erleiden. Gleichzeitig sind Machtstrukturen durch Menschen gestaltbar: Machtordnungen werden gemacht; Machterleben gehört zur Vergesellschaftung des Menschen: es bewegt sich im Spannungsfeld zwischen gegebener struktureller Gewalt und den Sozialstaatsansprüchen der Menschen. Da jede Machtanwendung immer Freiheitsbegrenzung bedeutet, ist sie immer rechtfertigungsbedürftig, denn Macht ohne Kontrolle und Transparenz führt immer zu Machtmißbrauch! Macht ist in sozialen Gefügen allgegenwärtig.

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Max Weber 1972: 28).

WEBER Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: J C B Mohr. 5., revidierte Auflage (2002): XXXIII, 948 S.


Die Weber'sche Machtdefinition erklärt die einfachen sozialen Zusammenhänge. Bei der Um­setzung von politischen und Managemententscheidungen existiert aber eine differenziertere Problematik, z.B. die Beeinflussung des Verhaltens durch Information/Desinformation, Über­zeugung, Manipulation, Motivation, Mitgliedschaft in sozialen Gruppen, Beeinflussung von Wertvorstellungen (Kulturwandel), Zwang usw.


Es gibt vier Durchsetzungsformen der Macht als anthropologische Konstanten:


POPITZ Heinrich (1992): Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen: Mohr Siebeck. 2., stark erweiterte Auflage 2004; 279 S.

SIEMONEIT Andreas (2014):Zusammenfassung von: Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Acht Abhandlungen. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 2. stark erweiterte Auflage 1992. http://www.effizienzkritik.de/download/Zus_Popitz_Phaenomene_der_Macht.pdf


  1. Aktionsmacht ist Verletzungsmacht, der Aktionsmächtige ist der Verletzungsmächtige. (Popitz 1992: S. 43). Da die Natur des Menschen sich durch die instinktungebundene Freiheit von allen anderen Lebewesen unterscheidet, muß der Mensch zwar nicht, kann aber immer gewaltsam sein; er ist deshalb auch zum Töten fähig.

  2. Instrumentelle Macht funktioniert über den Mechanismus von Drohen und Bedrohtsein. Durch Drohungen und Versprechungen wird das Verhalten der Menschen gesteuert. Instrumen­telle Macht ist der zentrale Wirkmechanismus in der neoliberalen westlichen Gesellschaft. Sie will dauerhafte Unterwerfung begründen.

  3. Autoritative Macht steuert als „innere Macht“ ohne äußere Kontrolle das Verhalten von Menschen. Jeder Mensch ist existenziell anerkennungsbedürftig und maßstabsbedürftig. Auto­ritätsbeziehungen beruhen auf einem zweifachen Anerkennungsprozeß: auf der Anerkennung der Überlegenheit anderer (Maßstabsetzer) und und auf dem Bestreben, dafür selbst von diesen Maß­gebenden anerkannt zu werden. Angepaßtes Verhalten, das die Maßstäbe einer Gesellschaft realisiert, wird belohnt, schenkt Anerkennung und fördert das Selbstwertgefühl. Die Unterdrückung beruht in diesem Fall auf der Ordnungssicherheit, die das Machtzentrum anbietet.

  4. Datensetzende Macht ist verknüpft mit der instrumentellen Macht, denn Machtausübung über die Natur verändert unsere Freiräume und Lebensbedingungen. Die Aneignung natürlicher Ressourcen, architektonische Gestaltung, Bodenversiegelung, Anbau von Monokulturen, Tech­nikfolgen u.ä. verändern unsere Lebensumwelt oft im negativen Sinn.


Da jede Vergesellschaftung mit Machtbildung verbunden ist, stellt sich immer wieder die Frage, wie die Machtausübung menschenwürdig und ohne Erniedrigungen und Verletzungen gestaltet werden kann. Denn jede Machtstruktur strebt nach Zentralismus, in dem möglichst viel von einer Ebene aus geregelt wird und von den Betroffenen (möglichst) widerspruchlos zu akzeptieren ist. Im Gegensatz dazu existieren im Föderalismus mehrere politische Ebenen, die ebenfalls Ent­scheidungsmöglichkeiten haben.


Am besten vertragen sich Machtverhältnisse und Lebensrechte der Menschen in den liberalen Demokratien (z.B. Schweiz, Kanada) durch effektive Realisierung der demokratischen Grundideale und Institutionen in Form eines starken Rechtsstaats mit Gewaltenteilung und deutlich ausge­prägten Bürgerrechten, die auch Minderheiten wirkungsvoll schützen.


In elektoralen Demokratien (z.B. Österreich) sind Wahlen zwar frei und fair, aber die Gewalten­teilung ist unvollständig, wobei etwa die Regierung oder das Staatsoberhaupt nur einer schwa­chen oder gar keiner Kontrolle durch Judikative oder Parlament unterliegt. Während der Covid-19-Pandemie haben zahlreiche Regierungen Maßnahmen ergriffen, welche die bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechte massiv einschränkten, etwa die Versammlungsfreiheit oder den Zugang zu alternativen Informationsquellen. Die Erosion demokratischer Normen, die zu­nehmende Macht der Exekutive sowie abnehmende Medienfreiheit sind weltweite Symptome einer bedrohlichen Autokratisierung der Demokratie (Boese 2021).


Die Machtausübung durch autokratische Organisationen hat sich historisch oft als „gottgewollt“ selbst „heiliggesprochen“. Im klassischen Griechenland existierten zwei Begriffe für die Macht: arché und dynamis. Arché (griech. ἀρχή, Anfang, Prinzip, Urgrund) ist die soziale Macht, die früh als Hierarchie, d.h. heilige Ordnung, außer Streit gestellt wurde. Dynamis (δύναμις‎, individuelle Kraft für etwas, Einfluß auf etwas, wirkmächtige Substanz) ist dagegen eine individuelle und persönliche Qualität.


Autoritär organisierte Gewaltanwendung dient der Expansion oder Stärkung einer Gesellschafts-ordnung und wird deshalb häufig als „gottgegeben“ behauptet: z.B. die Christliche Kolonisation mit Kreuz und Schwert (Raubzüge der Conquistadoren), Heilige Kriege, Heilige Inquisition (Gesin­nungsterror, Folter, blutige Repression und Staatsterror „im Namen Gottes“), Kreuzzüge usw.

  • Heiliger Krieg (595 v.u.Z. - dato) bedeutet Kampf gegen Andersgläubige. Damit haben die Israeliten ihr Gelobtes Land erobert, die Christen Kreuzzüge geführt sowie „missioniert“ und Islamisten versuchen bis heute, alle Andersgläubigen auszulöschen.

  • Der Heilige Stuhl (lat. Sancta Sedes, Wormser Konkordat 1122- dato) verkörpert als Völker­rechtssubjekt die an kein Territorium oder Volk gebundene Gesamtheit der obersten Leitungsorgane der katholischen Kirche und den Papst als ihr Oberhaupt.

  • Das Heilige Römische Reich (lat. Sacrum Imperium Romanum, 1157-1806) bezeichnete das Herrschaftsgebiet der römisch-deutschen Kaiser.

  • Die Heilige Inquisition (Sanctum Officium, 1231-1967) war eine päpstliche Behörde zur Ketzerverfolgung, in der dieselbe Instanz die Anklage erhob, die Untersuchung führte und das Urteil sprach. Den Urteilsvollzug übernahmen dann staatliche Organe.

  • Die Heilige Kongregation für die Verbreitung des Glaubens (lat. Sacra Congregatio de Propaganda Fide, 1622-dato) päpstliche Behörde zur „Evangelisierung der Völker“.

  • Die Heilige Allianz (frz. La Sainte-Alliance, 1815-1853) entstand nach den Napoleonischen Kriegen (1803-1815) aus dem Dreierbündnis von Österreich, Russland und Preußen „zur Sicherung des ewigen Friedens“, dem sich außer Großbritannien und dem Vatikan alle christlichen europäischen Staaten anschlossen. Sie diente vor allem der Machterhaltung und Unterdrückungspolitik des österreichischen Ministers Metternich gegen alle demo­kratischen Bestrebungen.


Eine autoritäre Macht erklärt alles, was ihr nützt zur Direktive (Anordnung), zum Dogma (Glau­benssatz), zur Doktrin (Grundsatzerklärung, Verhaltensmaßregel), zur Maxime (Lebensregel, Leitgedanke) oder zumindest zum Narrativ (sinnstiftende Erzählung, verpflichtende Verlautbarung).


Macht als symbolische Dimension der Herrschaft bestimmt den sozialen Raum (Bourdieu 1997a: S. 106), den gesellschaftliche Akteure einnehmen dürfen. Ihre Ausstattung mit verschiedenen Kapi­talien – kulturelles, ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital (Bourdieu 1983) – bestimmt die klassenspezifischen Habitusformen. Der soziale Raum wird in erster Linie durch das ökono­mische und kulturelle Kapital gesichert (Mörth-Pohl Familienchronik S. 552). Nicht eine Bewußtseins­kategorie führt zur Reproduktion der Klasse, sondern der Habitus als Ausdruck der Klassenlage, der eher einem kollektiven Klassenunbewußtsein entspricht. Die soziale Stellung kann als habi­tualisierte Traditionslinie verstanden werden, die unter konkreten sozioökonomischen Bedin­gungen entstanden ist, durch diese aber nicht endgültig determiniert wird. Sie beruht auf Be­ziehungen, Denkformen, Erfahrungen, Gewohnheiten, Motivationslage, Selbstwahrnehmung und Traditionen der Akteure. Reguläre, sozial abgesicherte und stabile Erwerbsarbeit (Identität durch Arbeit) ist ein „irreduzibler Integrationsanker“ (Kraemer 2008, S. 45) in der neoliberalen Gesell­schaft.


Unangepaßte („Querdenker“), Rebellierende und Selbstdenker werden von autoritären Macht­habern häufig exkludiert und marginalisiert sowie von den gesellschaftlichen Möglichkeiten so weit wie möglich ausgeschlossen (Mörth-Pohl Familienchronik S. 509-511). Es gibt drei Dimensionen sozialer Ausgrenzung: 1. eine materielle Dimension, 2. eine partizipatorische Dimension und 3. eine subjektive Dimension, wenn die Lebensweise individuell umstrukturiert wird. In unserer neoliberalen Gesellschaft ist auch Arbeitslosigkeit ein zentraler Aspekt gesellschaftlicher Des­integration (Bourdieu 1997b: S. 144) und Marginalisierung.


Das Wichtigste in einer marginalisierten Situation ist aktives Handeln und ein aktiver Umgang mit der eigenen Situation. Hilfreich ist auch die Selbstreflexion; unterstützend wirken dabei zi­vilgesellschaftliche Infrastrukturen und soziale Netzwerke. Dabei gibt es Bereiche und „Mög­lichkeiten ohne Ende, man muß nur wissen wo,“ in denen der Einzelne sich als handelndes und selbstbestimmtes Subjekt auch in der Marginalisierung verwirklichen kann (Wimmer 2018, S. 281).


BOESE Vanessa A (2021): Demokratie in Gefahr? Aus Politik und Zeitgeschichte, 71 (26-27): S. 24-31.

BOURDIEU Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel R (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderheft 2). Göttingen: Otto Schartz & Co, S. 183-198.

BOURDIEU Pierre (1997a): Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld, in: Bourdieu P: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik und Kultur 2, Hamburg: VSA, S. 59–78.

BOURDIEU Pierre (1997b): Ortseffekte, in: Bourdieu P et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: Universitätsverlag, S. 159-167.

KRAEMER Klaus (2008): Integration und Desintegration. Wie aktuell sind diese soziologischen Schlüssel­begriffe noch für eine moderne Gesellschaftsanalyse? Swiss Journal of Sociology, 34 (1): 37-53.

MÜLLER Albrecht (2022): Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst: Wie man Manipulationen durchschaut. Erweiterte Neuauflage, Frankfurt a.M.: Westend Vlg., 192 S.

POHL Adolf Maria Leopold (2021): Chronik der Familien Mörth und Pohl. Geschichte zweier Schmiede­familien aus Ostösterreich und Schlesien. Wien: Privatdruck, 748 S.

WIMMER Christopher (2018): Marginalisierung und eine lebensweltliche Klassenanalyse. Reproduktion und Umgangsweisen der marginalisierten Klasse in Deutschland. Zschr. für Qualitative Forschung 19 (1+2): 271‒288.

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